Text Volker Gustedt Fotos AdobeStock: Artem Zakharov, Nomad_Soul

Zu einer Zeit, als Hygiene noch eine dehnbare Verordnung war, absolvierte ich ein Praktikum in einer Bäckerei. Kurz vor Feierabend bekam ich die schönste Aufgabe des Tages. Sämtliche unverkauften Kuchenreste landeten in einer großen Plastikschüssel – von Schwarzwälder Kirsch-Torte bis Bienenstich. Ich krempelte meine Ärmel hoch und vermengte mit meinen Händen das Ganze unter Zugabe von reichlich Rum-Aroma zu einem riesigen braunen Klumpen. Daraus formte ich Kügelchen, und um deren Konsistenz zu testen, warf ich sie an die Decke der Backstube. Klebten sie dort für ein paar Sekunden, bevor sie herunterfielen, waren sie perfekt. Ich fing sie auf und veredelte sie mit Schokostreuseln zu Rumkugeln für den nächsten Tag. Meine Rumkugeln schmeckten wirklich lecker! Und in punkto Nachhaltigkeit waren wir von der backenden Zunft der damaligen Zeit weit voraus.

Heute blutet mir manchmal das Herz, wenn ich am Entsorgungsbereich meines Supermarktes vorbeikomme, der sich übelriechend direkt neben den Fahrradständern befindet. Unverkaufter Kuchen wandert direkt in eine große Mülltonne. Was passiert damit? Umwandlung in Biogas? Kompost? Oder ganz pragmatisch Müllverbrennung? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass jährlich rund 11 Millionen Tonnen Lebensmittel in Deutschland „entsorgt“ werden. Wer zahlt das? Jedenfalls nicht Herr oder Frau Aldi, Lidl, Rewe oder Edeka. Es zahlen: Wir alle!

Die meisten Lebensmittel werfen wir Verbraucher übrigens selbst weg. 78 Kilogramm pro Haushalt und Jahr. Nehmen wir mal an, diese Menge bestünde ausschließlich aus Kartoffeln, Brot und Bananen zu einem Kilopreis von zwei Euro. Das bedeutet: wir werfen jedes Jahr rund 160 Euro einfach so in die Mülltonne.

#Blindleistung

Blindleistung ist der kleine Bruder oder die kleine Schwester der Wirkleistung. Irgendwie lästig, aber unerlässlich für den Stromtransport im Wechselspannungsnetz.

So jetzt Achtung! Rasanter Gedankensprung und harter Themenwechsel. Diese Summe entspricht ungefähr dem, was jeder Haushalt an Netzentgelten an Übertragungs- und Verteilnetzbetreiber bezahlen muss, damit rund um die Uhr – und mit immer mehr Bio-Anteil versehen – Strom ins Haus kommt. Warum ziehe ich hier diesen komischen Vergleich? Weil in JEDER, in wirklich JEDER Diskussion um den Ausbau der Windenergie jemand sagt: „Es ist für die Akzeptanz vor Ort schädlich, wenn der Wind bläst und viele Windräder stehen still. Das kann man niemandem erklären.“

Doch, sorry, kann man erklären. Es gibt kein einziges Produkt in unserem Wirtschaftssystem, von dem exakt so viel hergestellt wie verbraucht wird. Weder Lebensmittel noch Medikamente noch Unterhosen. Allein Amazon Deutschland vernichtet jedes Jahr hunderte Tonnen Neuware, die den Kunden aus irgendwelchen Gründen nicht gefällt. Produziert, retourniert, entsorgt. Ein Skandal!? Andererseits: Auf Kuba und in Nordkorea – und früher auch im Osten Deutschland – versucht man, grundsätzlich weniger zu produzieren als gebraucht wird. Hat sich weltweit auch nicht als Erfolgsmodell durchgesetzt.

Beim Strom haben wir drei Möglichkeiten der Müllvermeidung. 1. Man baut die Verkehrswege aus und sorgt dafür, dass der Strom unterwegs nicht im Stau steht und vergammelt äh feststeckt. Das nennt sich Netzausbau. 2. Nach dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ nutzt man den Strom vor Ort und macht etwas anderes daraus. Zum Beispiel Wasserstoff oder Wärme. 3. Man perfektioniert die Just-In-Time-Logistikkette und rechnet noch besser aus, wer wann wie produziert und wer wann wo Strom benötigt.

Das Bundeslandwirtschaftsministerium veranstaltet Anfang Oktober übrigens die „Aktionswoche Deutschland rettet Lebensmittel!“ Eine feine Sache. Vielleicht sollten wir Übertragungsnetzbetreiber uns daran ein Beispiel nehmen und unser Kerngeschäft positiver framen anstatt mit Begriffen aus der Folterkammer der deutschen Sprache wie „Stromnetzentgeltverordnung“ zu hantieren.

Als Titel für den nächsten Netzentwicklungsplan Strom 2025 (2039) schlage ich daher vor: „Deutschland rettet den Strom. Machen Sie mit beim Upcycling-Contest für eine klimaneutrale Zukunft.“

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