Interview & Fotos Dominik Drutschmann

Durch zwei neue Planungs- und Genehmigungsinstrumente will die Bundes­netzagentur (BNetzA) den Bau neuer Höchstspannungs-Gleichstrom-Übertragungsleitungen (HGÜ) deutlich verkürzen: das Bündelungsprinzip und das Präferenzraumverfahren. Im Interview verrät Barbie Haller, Vizepräsidentin der BNetzA, wie der Netzausbau vorankommt und welche ­Beschleunigungspotenziale es gibt.

An welchem Punkt beim Stromnetzausbau stehen wir derzeit nach Ihrer Einschätzung?

Barbie Haller: Wir sind an einem wichtigen Punkt. Vieles, was man ewig diskutiert hat, ist gelöst. Es geht jetzt darum, zu bauen. Es gehen sogar Anträge auf vorzeitige Baubeginne bei uns ein, die wir zügig genehmigen. Die Leute in unserem Hause merken diese Aufbruchstimmung und gehen mit Euphorie an die Sache. Und das ist gut so. Es muss nämlich losgehen.

Wie sah das Genehmigungsverfahren bisher aus und was waren aus Sicht der BNetzA die Schwachstellen im bisherigen zweistufigen Genehmigungsverfahren mit Bundesfachplanung und Planfeststellungsverfahren?

Haller: Bei der sehr breit angelegten Bundesfachplanung wusste man eigentlich nur: Es gibt einen Anfangs- und einen Endpunkt. Und da müssen wir irgendwie durch. Es gab wenig Kriterien, an denen man sich festhalten konnte. Auf Grundlage der Daten aus der Vergangenheit haben wir Kriterien entwickelt, was wir ändern müssen. Die wichtigste Erkenntnis: Wenn wir zu breit anfangen, brauchen wir unglaublich viel Zeit. Was man in der Bundesfachplanung gemacht hat – durch Anhörungen, ­Diskussionen, Abschichtung, Berechnungen –, machen wir jetzt in einem einzigen Verfahren. Alle Daten, die wir sammeln, werten wir softwareunterstützt aus und kommen so zu möglichst konflikt­armen Strecken, bei denen wir mögliche Wider­stände von Beginn an bearbeiten können.

Wo wollen Sie am Ende des Jahres bei den genehmigten Leitungskilometern stehen?

Haller: Wir werden dann wohl bei etwa 900 Kilometern liegen – vielleicht sogar ein bisschen darüber. Aber das ist nur der Anfang. Wenn wir auch die großen Vorhaben durchgenehmigt haben, geht es im nächsten Jahr richtig los. Ende 2024 wollen wir bei 2.700 Kilometern sein.

„Wenn wir auch die großen Vorhaben durchgenehmigt haben, geht es im nächsten Jahr richtig los.“

Barbie Haller (46) stammt aus Stuttgart und hat an der Universität Tübingen Volkswirtschaftslehre studiert. Sie ist seit 2004 bei der Bundesnetzagentur, seit Juni 2022 als Vizepräsidentin für die Bereiche Energie und Post zuständig.

Als die damalige Bundesregierung 2011 ein Netzbeschleunigungsgesetz auf den Weg gebracht hatte, sollten innerhalb von sieben Jahren fast 6.000 Kilometer gebaut werden. 2018 waren es nur rund 150 Kilometer. Warum liegen Prognosen so häufig daneben?

Haller: Die nackten Zahlen sind natürlich deprimierend. Der Grund dafür war, dass die Unternehmen nicht wussten, wie sie so ein Riesenprojekt organisieren; die Genehmigungsbehörden wussten nicht, welche Probleme sich auftun würden. Man wusste auch nicht, wen man einbeziehen sollte und wie man die Bevölkerung an Bord bekommt. Wir mussten sehr viel lernen. Die Akzeptanz in der Bevölkerung ist gewachsen und die Notwendigkeit des Netzausbaus ist breiter kommuniziert. Das heißt auch: Die Zeit war nicht vergeudet. Aber sicher hätte man in einzelnen Punkten – etwa bei der Bevölkerungsbeteiligung – besser nachdenken können oder schneller lernen müssen.

Wie lange dauert heute durchschnittlich ein bundesländerübergreifendes Genehmigungsverfahren und wovon hängt die Dauer derzeit hauptsächlich ab?

Haller: Das Planfeststellungsverfahren dauert – im Standardfall – dreieinhalb Jahre. Es kann sich aber auch verzögern. Die Bundesfachplanung dauert etwa zweieinhalb Jahre. Im Standardverfahren sind wir also bei insgesamt etwa sechs Jahren bisher.

Warum verlaufen die Planungs- und Genehmigungsverfahren anderer Netzinfrastrukturen – zum Beispiel der Gasfernleitungen – in der Regel schneller als die Stromleitungsvorhaben?

Haller: Die Verfahren bei den Gasfernleitungen sind nicht so durchgeregelt. Beim Ausbau der Strominfrastruktur haben wir deutlich mehr Verfahrensschritte als beim Ausbau von Gasfernleitungen, eben weil wir – was richtig war – davon ausgegangen sind, dass wir zuerst für Akzeptanz in der Bevölkerung sorgen müssen. Und für Akzeptanz sorgt man, indem man den Vorgang transparent macht, konsultiert und anhört – mitunter auch mehrmals in einem Verfahren. Bei Gasfernleitungen gibt es keine Akzeptanz­probleme.

Warum ist das so?

Haller: Die Bevölkerung geht davon aus, dass es dabei keinerlei Einflüsse auf Natur und Umwelt gibt. Deshalb gibt es keine Vorbehalte, die eine Genehmigungsbehörde prüfen müsste. Und dadurch, dass die Bauvorhaben punktuell sind, fallen sie der Gesamtbevölkerung nicht auf.

„Dadurch ist die Bevölkerung weniger belastet. Die Präferenzraummethode sucht in zwei Schritten möglichst kurze und konfliktarme Verbindungen.“

Jetzt soll der Netzausbau insbesondere der großen Gleichstromverbindungen von Nord nach Süd mittels Bündelungsprinzip und Präferenzraumverfahren beschleunigt werden. Was verbirgt sich hinter diesen ­beiden ­Begriffen?

Haller: Das Bündelungsprinzip bedeutet: sobald man bestimmte Leitungen in einem Korridor führen kann, soll es getan werden – auch wenn die Leitung möglicherweise etwas länger wird. Dann muss man nur einmal die Baugrunduntersuchung machen und man muss nur einmal die Baustelle eröffnen.

Dadurch ist die Bevölkerung weniger belastet. Die Präferenzraummethode sucht in zwei Schritten möglichst kurze und konfliktarme Verbindungen. Die Planer nutzen dabei Daten, die uns vorliegen: über Raumwiderstände, Landschaftsschutzgebiete, Siedlungsgebiete, Deponien – alles Mögliche. Deutschland ist sehr gut in der Kartierung, die Daten liegen jetzt digital vor und wir müssen sie nutzen.

Die voraussichtlich konfliktärmste Strecke wird am Ende ausgesucht. Das ist die automatisierte Seite des Verfahrens. In einer zweiten Stufe prüfen eine Planerin oder ein Planer noch einmal, ob das Verfahren wirklich funktionieren kann. Denn: In Summe kann ein Raum laut den Daten der beste sein, aber ein einzelner gewichtiger Grund kann ausreichen, das ganze Vorhaben in Gefahr zu bringen oder zu verzögern. Nach diesen zwei Schritten steht ein Präferenzraum.

Welche Beschleunigungseffekte erhoffen Sie sich davon?

Haller: Durch das Präferenzraumverfahren ­sparen wir wahrscheinlich etwa zweieinhalb Jahre im ­gesamten Prozess. Das heißt am Ende dreieinhalb statt sechs Jahren.

Wie viele Präferenzraumverfahren sind bereits anhängig und was sind die ersten ­Erfahrungen?

Haller: Wir haben für alle Projekte, die infrage kommen, Präferenzräume definiert. Das sind etwa 4.400 Kilometer. Die Vorschläge liegen jetzt bei den Übertragungsnetzbetreibern zur Überprüfung. Als Nächstes beurteilen wir die Umweltauswirkungen im sogenannten Umweltbericht. Auch das wird noch einmal geprüft. Wir hoffen, dass mit Veröffentlichung des Netzentwicklungsplans im kommenden Jahr und des Umweltberichts auch die Präferenz­räume feststehen.

„Durch das Präferenzraumverfahren sparen wir etwa zweieinhalb Jahre.“

„Das ist transparenter und besser zu verstehen als das alte Verfahren.“

Haben Sie für die Verfahren zusätzliches Personal eingestellt, neue Abteilungen aufgebaut und sich so neues Know-how eingekauft?

Haller: Nein. Das Wissen aus den alten Verfahren soll auch in die neuen einfließen. Nur so können wir es verbessern. Natürlich brauchen wir – wie so viele Unternehmen – Personal. Das liegt aber nicht in einer veränderten Rolle, sondern schlicht daran, dass wir mehr Kilometer machen müssen.

Wie stellen Sie sich als BNetzA die Zusammenarbeit vor Ort im Projekt mit den Übertragungsnetzbetreibern als sogenannten Vorhabensträgern im besten Falle vor?

Haller: Wichtig ist Offenheit. Wenn ein Präferenzraum definiert ist, muss allen Beteiligten klar sein, dass der Korridor feststeht. Wenn eine Kommune mit dem Vorschlag kommt, 20 Kilometer weiter nach Norden zu gehen, müssen beide Seiten – wir als Bundesnetzagentur und die Übertragungsnetzbetreiber – klar vermitteln, dass darüber nicht mehr diskutiert wird. Innerhalb des fünf bis zehn Kilometer breiten Korridors können wir diskutieren – außerhalb davon nicht mehr. Das müssen wir eng abstimmen, damit der eine nicht Hoffnungen weckt, die der andere nicht erfüllen kann.

Besteht aus Ihrer Sicht die Gefahr, dass die lokalen Stakeholder vor Ort sich durch das neue Verfahren nicht genug „mitgenommen“ fühlen und dann eher über den Rechtsweg in eine Blockade gehen könnten?

Haller: Das Verfahren ist konsolidiert worden. Wir können anhand von Zahlen, Daten und Fakten sehr gut erklären, was wir da machen. Das ist die Basis. Statt vieler Seiten Erklärungen sieht man im Präferenzraumverfahren gebündelt auf einer Karte, was die Probleme, aber auch Chancen der definierten Korridore sind. Das ist transparenter und besser zu verstehen als das alte Verfahren. Wenn jemand aber partout dagegen ist, wird er sich womöglich auch davon nicht überzeugen lassen. Es bleibt dabei: Einzelne Bürgerinnen und Bürger, aber auch Unternehmen, die in der Nähe der Präferenzräume sind, werden vielleicht belastet. Das ist bei jedem Infrastrukturprojekt so. Aber es muss klar sein, dass es immer um das Große und Ganze geht.

Wenn man sich die Zustimmungen in der Bevölkerung anschaut – etwa im Hinblick auf den Ausbau Erneuerbarer Energien – sind die meisten Menschen dafür. Wenn aber Infrastrukturprojekte in der Nachbarschaft anstehen, wird dagegen vorgegangen. Wie schafft man es, die Zustimmung im Großen in eine Zustimmung bei ganz konkreten Projekten umzumünzen?

Haller: Viele Vorbehalte fußen auf Unsicherheit und Angst. Aber es ist wie bei der Finanzierung eines solidarischen Sozialsystems: Wenn wir alle davon profitieren wollen, müssen die Einzelnen dazu beitragen. Das heißt auch, womöglich kleine Belastungen in Kauf zu nehmen.

Kann man den Menschen mehr zumuten?

Haller: Wir müssen ehrlich sein. Mögliche Konflikte und Widerstände dürfen nicht dazu führen, dass ein Projekt nicht gemacht wird. Sollte die Verhinderung eines Projekts das ausgegebene Ziel sein, kann ich den Bürgerinnen und Bürgern sagen: Das werdet ihr nicht erreichen. Denn unsere Aufgabe ist die Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland und die Integration der Erneuerbaren Energien. Beides hängt zusammen. Das darf schlicht nicht infrage gestellt werden. Vielleicht hat man in der Vergangenheit den Fehler gemacht, es eben doch infrage zu stellen.

„Wenn wir alle davon profitieren wollen, müssen die Einzelnen dazu beitragen.“

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