Text Sebastian Rothe, Katrin Dietl, Siegfried Wagner — Fotos Jan Pauls, Manfred Vogel
Die Hauptstadtregion boomt. Aktuell leben in Berlin und im direkten Umland rund 4,1 Millionen Menschen. Start-ups, Digitalunternehmen, etablierte und neue Industriebetriebe – sie alle verlangen in Zukunft nach immer mehr Strom. Der Stromübertragungsnetzbetreiber 50Hertz errichtet deshalb eine leistungsstärkere Stromverbindung in einem neuen Kabeltunnel, der eine bestehende erdverlegte Leitung ersetzt.
4,1
Millionen Menschen in
Berlin und Umland
Ersatz für ein 45 Jahre alte Kabel
Schon heute wird die Hauptstadt durch die sogenannte Kabeldiagonale Berlin mit Strom versorgt. Diese wurde im Westteil der Stadt bereits 1978 als weltweit erstes erdverlegtes Stromkabel mit 380.000 Volt in Betrieb genommen. Im Berliner Untergrund, in Schutzrohren gelagert und durch Wasser gekühlt, nur von oben an den sogenannten Muffenbauwerken zugänglich. Nach der Wiedervereinigung kamen im Jahr 1998 und 2000 die Erweiterung in einem begeh- und mit einer kleinen Hängebahn befahrbaren Tunnel von Marzahn bis zum Potsdamer Platz hinzu. Das vervollständigte die Höchstspannungsleitung zur Kabeldiagonale Berlin. Die Leitung wurde so vor 23 Jahren zur Stromschlagader Berlins.
Nun gilt es, die Erdkabel aus den 1970er-Jahren zu ersetzen, den fast sieben Kilometer langen Abschnitt von der Rudolf-Wissell-Brücke bis zum Potsdamer Platz als Tunnel auszubauen und darin moderne, leistungsfähigere Stromkabel zu verlegen. Bis 2028 soll das anspruchsvolle Vorhaben, dem eine Vielzahl an Einzelgenehmigungen vorausgingen, abgeschlossen sein. Für die Berlinerinnen und Berliner wird das unterirdische Bauwerk schon jetzt an prominenten Stellen sichtbar: So ist auf der Straße des 17. Juni zwischen Siegessäule und Charlottenburger Tor teils schweres Gerät im Einsatz. Dort wird einer von vier Versorgungs- und Notfallschächten errichtet. Auch unter der Rudolf-Wissell-Brücke wird fleißig gebaut.
Knapp 900 Millionen Euro investiert 50Hertz bis 2030, um mehr grünen Strom nach Berlin zu bringen. Gut ein Drittel dieser Investitionssumme fließt dabei in den Um- und Ausbau der Kabeldiagonale Berlin. Zur technischen und baulichen Umsetzung des wichtigen Vorhabens sind zwei Spezialunternehmen im Einsatz, die in Berlin wohlbekannt sind: Die Schweizer Baufirma Implenia AG und der Spezialist für Tunnelbohrmaschinen, die Herrenknecht AG aus dem Schwarzwald, haben bereits die U-Bahn-Linie 5 im Auftrag des Landes Berlin gebaut. Daher wissen sie genau: Nach dem märkischen Sand folgt: WASSER. Viel Wasser.
Tief runter: An einer Gondel schweben Arbeiter am Schacht Rudolf-Wissell-Brücke in die Tiefe. Dort beginnt der Tunnel.
Bauteil für Bauteil. Die Tunnelvortriebsmaschine musste per Kran in Einzelteilen in die Tiefe gelassen werden.
900
Millionen Euro investiert
50Hertz bis 2030 für mehr
grünen Strom in Berlin
In 30 Meter Tiefe beginnt der Tunnelvortrieb
Rückblende: Wasser läuft in zwei runde, dicht nebeneinander liegende Becken mit je circa 15 Metern Durchmesser, verbunden durch einen Zwischenschacht. Alle drei sind 28 Meter tief. Ein Taucher springt ins Wasser und begibt sich auf den Grund. Wegen der in der Tiefe nur wenige Minuten möglichen Arbeitszeit wechseln sich die Taucher beim Entfernen der Betonreste an den Enden der tief in den Boden getriebenen 100 Gewindestangen ab. Später werden an diese Gewinde Kopfplatten angeschraubt, die gemeinsam mit einer zwei Meter dicken, unter Wasser aus Beton gegossenen Bodenplatte – einer sogenannten Unterwasserbetonsohle – den Auftrieb des Untergrundes verhindern. Erst wenn das geschafft ist, pumpen die Tunnelbauer die Schächte aus und legen sie so trocken.
Die drei dann miteinander verbundenen Schächte dienen dazu, einzelne Segmente der insgesamt 155 Meter langen Tunnelvortriebsmaschine einzubringen und nach und nach bis zur vollständigen Länge zusammenzusetzen. Doch nicht nur das. Die Schächte sind während des gesamten Tunnelbaus das wichtigste Ein- und Ausfallstor des Vorhabens. Am Anfangsschacht der Rudolf-Wissell-Brücke wird sämtliches beim Vortrieb gefördertes Berliner Erdreich ans Tageslicht gebracht, separiert und abtransportiert. Die weiteren Schächte dienen während der Bauzeit im Wesentlichen als Rettungsweg und später als Zugang und zur Belüftung der Anlage.
Der Tunnelvortrieb startete im Oktober 2022 mit der feierlichen Tunneltaufe durch die damalige Regierende Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey. Bei bestem Herbstwetter begrüßten Stefan Kapferer, Vorsitzender der 50Hertz-Geschäftsführung, Peter Hoppe, Technischer Leiter der Implenia Geschäftsstelle Berlin, und Franziska Giffey rund 150 geladene Gäste. Für die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der beteiligten Baufirmen Implenia und Herrnknecht hatte der Tag eine besondere Bedeutung, nicht weil Maschine und Tunnel einen Namen erhielten, sondern weil eine geweihte Holzfigur, die heilige Barbara, in einem Korb in den rund 30 Meter tiefen Schacht an der Rudolf-Wissell-Brücke hinabgelassen wurde. Als Schutzheilige der Bergleute wacht sie hier nun über den sicheren Baufortschritt. Segnung und Taufe übernahm Pastor Dirk Koeppe von der Landeskirchlichen Gemeinschaft Westend. Die Tunnelvortriebsmaschine wurde auf den Namen „Candela“ getauft, was auf Lateinisch „Kerze“ bedeutet. Der Namensvorschlag stammt aus dem 50Hertz-Team, das das Tunnelbauprojekt verantwortet, und setzte sich in einem internen Wettbewerb gegen verschiedene andere Vorschläge durch. Der Tunnel selbst erhielt, entsprechend einer alten Bergbautradition, den Namen seiner Taufpatin und heißt somit „Franziska“.
Genehmigungsmarathon
Der lange Weg durch die Berliner Instanzen
Vom Anfangsschacht aus bahnt sich aktuell die Tunnelvortriebsmaschine „Candela“ ihren Weg in Richtung Umspannwerk Mitte – durchschnittlich zehn Meter Strecke pro Tag sind dabei möglich. Damit dauert es circa zwei Jahre, bis die 6,7 Kilometer lange Tunnelröhre fertiggestellt ist. Bis 2028 soll dann der Ersatzneubau der 380-kV-Kabeldiagonale im Abschnitt zwischen Rudolf-Wissell-Brücke und dem Umspannwerk Mitte ihren Betrieb aufnehmen. Stefan Kapferer, Vorsitzender der Geschäftsführung von 50Hertz, ordnete das Projekt bei der feierlichen Zeremonie ein: „Die Kabeldiagonale Berlin ist eine der wichtigsten Stromleitungen unserer Stadt, also eine ihrer Hauptschlagadern. Der Stromverbrauch Berlins wird in den kommenden Jahren weiter anwachsen – durch die Umstellung der Fernwärme von Gas und Kohle auf Strom, die Ansiedlung von Rechenzentren, mehr Elektrofahrzeuge auf den Straßen und Wärmepumpen in Gebäuden und das Bevölkerungswachstum. Daher kommt dieser Stromverbindung eine enorme Bedeutung zu. Der Ausbau der Kabeldiagonale Berlin ist ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg hin zu unserem Ziel, im Jahr 2032 im Mittel 100 Prozent des Strombedarfs in unserem Netzgebiet durch Erneuerbare Energien zu decken.“
Peter Hoppe, Technischer Leiter Implenia Geschäftsstelle Berlin, wünschte allen Beteiligten eine reibungslose und unfallfreie Bauzeit. Tatsächlich war es mit dem Bau jedoch nur 14 Tage nach der großen Taufzeremonie erst einmal vorbei, da Bedenken wegen der sicheren Unterfahrung der Rudolf- Wissell-Brücke, immerhin Deutschlands am drittstärksten befahrener Autobahnabschnitt, aufkamen. Dank des großen Einsatzes aller Projektbeteiligten, inklusive kontinuierlicher Messungen an den Autobahnpfeilern, konnte die schwierige Situation gut und ohne Zwischenfälle gemeistert werden. Seit März 2023 ist die Tunnelvortriebsmaschine Candela wieder rund um die Uhr im Einsatz.
Aufgestapelt. Vorgefertigte Betonteile bilden die sogenannten Tübbingringe, mit denen der Tunnel ausgekleidet wird.
6,7
Kilometer lange
Tunnelröhre dank „Candela“
5.580
Tübbingringe für die
gesamte Strecke
Candela passierte kritisches Terrain
Mit dem Einstieg in den Normalbetrieb nimmt das Projekt zur spürbaren Erleichterung des Teams rund um Friedrich Kopp, Fachgebietsleiter Leitungsverstärkung AC-Kabel, und Bernd Gramling, Projektleiter, nun richtig Fahrt auf. Dazu kommt, dass das Baurecht für alle zu unterfahrenden Grundstücke für die gesamte Tunnelstrecke seit Kurzem vertraglich gesichert ist. Mittlerweile hat Candela kritisches Terrain wie die Autobahnbrücke und fünf Bahngleise hinter sich gelassen und fährt unter dem Schlosspark Charlottenburg durch. Die Tunnel-vortriebsmaschine ist inzwischen auf ihre vollständige Länge von 155 Metern gewachsen und hat somit alles an Bord, was die vier Schichtingenieure und -ingenieurinnen der Baufirma brauchen, um den Weg bis zum Endschacht am Umspann-werk Mitte hinter sich zu bringen. Rund 400 Tübbingringe sind bereits verbaut. Tübbingringe, so nennt man den 1,20 Meter breiten Ring aus insgesamt sechs Betonsegmenten, die den Tunnel ergeben. Insgesamt 5.580 dieser Ringe werden es am Ende sein. Wie schnell die Maschine sich tatsächlich fortbe-wegen wird, ist von zahlreichen Faktoren abhängig. Nicht alle sind beeinflussbar, etwa wenn Hindernisse wie große Findlinge oder der Wechsel der sogenannten Disken, Schälmesser und Räumer des Bohrkopfs das Weiterkommen verzögern. Auch werden ständig die Gleisanlagen im Tunnel oder die notwendigen Rohrleitungen für Druckluft, Mörtel und Wasser sowie Energiekabel verlängert. Trotz der Startschwierigkeiten ver-sucht das Team die Fertigstellung des Tunnels so schnell wie möglich zu erreichen. „Bis voraussichtlich Ende 2024, spätes-tens Anfang 2025 wollen wir im Umspannwerk Mitte ankommen. Dazu arbeiten wir derzeit daran, dass sich die Routinen im Normalbetrieb einspielen“, betont Bernd Gramling.
Arbeiten unter Tage: Vor der Hacke ist es dunkel
Candela ist rund um die Uhr im Einsatz. „Der Schichtbetrieb im 12-Stunden-Takt ist für die unter Tage Arbeitenden normal“, weiß Martin Kühnel, Teilprojektleiter Tunnelbau aus dem Projektteam von 50Hertz.
Er kennt alle Details der Maschine und hat Erfahrung mit dem vor allem wegen der Sand-Wasser-Mischung anspruchsvollen Baugrund unter der Hauptstadt. Herr Kühnel arbeitete vorher am Tunnel für die Verlängerung der U-Bahn-Linie 5 vom Alexanderplatz bis zum Hauptbahnhof.
Er weiß: Die Arbeitsbedingungen in U-Boot-Atmosphäre sind insgesamt herausfordernd. Eine Stehhöhe gibt es in der Maschine nicht, sodass viele Wege nur gebückt zurückge-legt werden können. Die Pausen erfolgen nach dem Takt der Maschine. Die Kommunikation gelingt in dem lauten Arbeits-umfeld mit Händen und Füssen oder per Telefon von Arbeits-platz zu Arbeitsplatz. Die verantwortungsvollste Aufgabe bei der Arbeit unter Tage übernimmt der Schildfahrer ganz vorne und somit nah am Bohrkopf der Maschine. Er kontrolliert den Abbau des wassergesättigten Berliner Bodens und hält die Maschine „auf Kurs“. Zur Orientierung hilft dabei eine Laser-messung. Der Richtungswechsel erfolgt durch gezielten Ein-satz der leicht angeschrägten Tübbinge.
In der Röhre mit ihren drei Metern Innendurchmesser findet al-les statt: Luft-, Strom- und Wasserversorgung, Abtransport des geförderten Erdreiches, Bahnverkehr für die Tübbing-Logistik sowie Transport der Mannschaft. „Zu Fuß darf sich während des Baus niemand im Tunnel bewegen. De facto verlässt die Mann-schaft während der 12-Stunden-Schichten nie die Maschine. Das ist schon herausfordernd“, erklärt Fachgebietsleiter Fried-rich Kopp. „Es ist außerordentlich anspruchsvoll und beein-druckend, was da in 30 Meter Tiefe geleistet wird“, pflichtet ihm Bernd Gramling bei.
Spätestens am 4. Dezember 2023 werden die Tunnelbauer wieder innehalten und den Gedenktag ihrer Schutzpatronin, der heiligen Barbara, feiern. So will es die Bergbautradition. Wenn es nach Plan läuft, wird dieses Fest noch zweimal gefeiert. Denn – 2025 – soll der Tunnel fertig sein. Im selben Jahr soll ein weiterer Ersatzneubau hier starten. Allerdings keiner von 50Hertz. Zwei neue Brücken sollen die Rudolf-Wissell-Brücke ersetzen.
Feinabstimmung. Gesamtprojektleiter Bernd Gramling ist mit allen Details vertraut und verantwortet aufseiten von 50Hertz die Großbaustelle.
2025
Ende der Tunnelarbeiten