Text Volker Gustedt Fotos ©iStockphoto.com/gremlin, picture-alliance / dpa | Hans Dürrwald

Zu den Herausforderungen unserer Zeit gehört es nach gängiger Meinung, die „Spaltung“ in unserer Gesellschaft zu überwinden. Nur so sei dem Populismus von rechts und links beizukommen. Manche sprechen auch von einem „Riss“. Wäre ich Arzt, würde ich eine Anamnese starten: Liebe Gesellschaft, wie äußern sich Deine Spaltungssymptome? Tun sie weh? Seit wann plagen sie Dich?

Leider bin ich kein Arzt; Soziologen und Politologen liefern nur schwammige Befunde. Daher würde ich am liebsten Martin Winterkorn beauftragen, den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Volkswagen AG. Martin Winterkorn trug der Legende nach in seinem Maßanzug stets eine kleine Schubleere mit sich. Damit kontrollierte er auf Automessen, ob die ausgestellten Golfs auch auf den Millimeter genau zusammengebaut waren.

#Blindleistung

Blindleistung ist der kleine Bruder oder die kleine Schwester der Wirkleistung – irgendwie lästig, aber unerlässlich für den Stromtransport im Wechselspannungsnetz.

Ein Herz und eine Seele: "Ekel Alfred" als kleingeratener Spießer in Aktion.

Martin Winterkorn war Spaltmaß-Fetischist. Ich würde ihn bitten: „Martin, miss doch mal mit Deiner Schublehre den Spalt ganz genau aus, der mitten durch unsere Mitte geht. Und liefere uns Angaben zu Groß- und Kleinstädtern, Berlinern und Bayern, Frauen und Männern, Kinderreichen und Kinderlosen, Reichen und Armen, Menschen mit und ohne (erkennbaren) Migrationshintergrund, Fleischessern und Vegetariern/ Veganern, Katzenfreunden und Katzenhassern, Impfjunkies und Impfgegnern. Und dann würde der Martin das alles säuberlich in eine Excel-Tabelle eintragen und wir wüssten genau, wo wir Spalte und Risse zuspachteln müssen. Leider steht Martin Winterkorn wegen des VW-Abgas-Skandals vor Gericht und hat deshalb keine Kapazitäten frei.

Ein Problem bliebe das Referenzjahr. Aus dem Geschichtsunterricht weiß ich, dass die Zeit der Bauernkriege zu Beginn des 16. Jahrhunderts sehr von Spaltung geprägt war – wegen der Leibeigenschaft. Hätten die Bäuerinnen und Bauern damals Monstertrecker, Mähdrescher und Güllewagen gehabt – die Geschichte wäre anders verlaufen. Dagegen erinnern die wütenden Landwirtinnen und Landwirte von heute an eine Yogagruppe im Retreat. Im Dreißigjährigen Krieg gingen so viele Risse durch die damalige Gesellschaft, dass das Gesamtbild an eine Autoscheibe nach Steinschlag erinnerte. Von späteren Jahrhunderten schweige ich und auch von Karl Marx, der von der spaltlosen Gesellschaft träumte.

War vielleicht die Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung ungespalten? Mal überlegen. Nein! Damals machten Skinheads Jagd auf Ausländer, es gab Lichterketten und Montagsdemos, und eine Zeitung namens Super! titelte die legendäre Schlagzeile: „Angeber-Wessi mit Bierflasche erschlagen […] Ganz Bernau ist glücklich, daß er tot ist“

Vielleicht waren die goldenen spaltfreien Jahre in den 1970ern beheimatet? Die DDR feierte fröhlich die Weltfestspiele der Jugend als Happening der multikulturellen sozialistischen Gesellschaft. Und der Westen schaute im Fernsehen die Serie „Ein Herz und eine Seele“ an. Die handelte von einem kleingeratenen Spießer („Ekel Alfred“), den man heutzutage als rassistisch, homophob, frauenfeindlich und rechtsextrem definieren würde. Die Serie ist in der ARD Mediathek weiterhin verfügbar, allerdings mit einem Warnhinweis: „Das folgende Programm […] enthält Passagen, die heute als diskriminierend betrachtet werden können.“

In diesen Passagen bezeichnet Ekel Alfred seine Frau als d******** K**, Gastarbeiter als K*********** und seinen Schwiegersohn als Kommunisten. Trotz gravierender Differenzen in Weltanschauungsfragen saß die Familie Tetzlaff am Küchentisch zusammen und debattierte, anstatt sich mit dem Smartphone in eine Echokammer des Internets zurückzuziehen, rumzupöbeln und die Likes von Gleichgesinnten einzusammeln. Wenn Martin Winterkorn damals gemessen hätte, wäre er vielleicht nur auf ein Spaltmaß von einem Millimeter gekommen. Wer weiß.

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